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Passagen - das Spiel mit Übergängen

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Zu den Arbeiten von Anschi Pohlmann

Malerei birgt Geheimnisse, sie spricht nicht alles an, sie spricht nicht alles aus. Der Kunst von Anschi Pohlmann zu begegnen heißt, sich in dieses Gefühl hineinzugeben und dabei gestellte Fragen letztendlich nicht beantwortet zu bekommen. Den Aufgeregtheiten des Lebens entrückt, taucht man ein in eine Bildwelt, deren nachhaltige Sinnlichkeit und zarte Melancholie eine so stille innere Daseinsbefragung vermittelt, dass ein bauchiger Moll - Ton sie zu umhüllen scheint.

Ihre Malerei ist Farbmalerei. Unter den Bedingungen der Moderne hat das Bild nicht mehr die Funktion, mimetisch auf die außerbildliche Wirklichkeit zu verweisen. Es konstituiert sich aus den Gegebenheiten von Material und Fläche. Malen ist für Anschi Pohlmann nicht eine bloße Übung des Auges und der Hand, sondern ein meditativer Akt, ein hochgradig emotionaler Prozess. Das Stoffliche geht auf in den Rhythmus der aus dem Inneren geführten Bewegung. Emotionale, körperliche, geistige, räumliche und zeitliche Nähe zur Farbe sind integrale Momente der Malerei Anschi Pohlmanns. Ihre Bilder bieten Orte des sinnlichen Wahrnehmens, Empfindens und geistiger Auseinandersetzung in einer so allein dem Bild möglichen Weise miteinander verschränkt.

Der Bildraum entsteht aus einem Register von horizontal, in vielen Lagen und Schichtungen angelegten Farbflächen und Malgesten. Das Bild konstituiert eine komplett eigene Welt: "Inhalt der Malerei ist, was unsere Augen denken", hat Cezanne gesagt. Was denken wir mit unseren Augen? Mit den unterschiedlich breiten, horizontal angelegten Farbstreifen, deren Oberflächen im Licht changieren, assoziiert man in der Betrachtung dieser Arbeiten den Blick in die Weite einer Landschaft, des Himmels, des Meeres. Und doch ist das, was man als Landschaft bezeichnen möchte, mehr zu verstehen als meditativer Raum, der nach Innen gerichtet und nicht zuhause im Hier und Jetzt ist. Diese Farbräume bilden ein sublimes Panorama vergeistigter Natur - Erinnerung an Natur? ab, das sich in Farbverläufen manifestiert. Dabei wird Farbe nicht durch ausgreifende Gesten in Bewegung gesetzt, sondern aus den nuancierten Abstufungen und den Beziehungen zwischen den Farben selbst entwickelt sich die charakteristische Bilddynamik. Die Farbstreifen sind nicht nur optische Phänomene, sie stehen für Schichten, Schnitte, Überlagerungen, Übergänge, Grenzen, Passagen. An der Grenze von zwei Farbfeldern entsteht zunächst eine Linie. Dieser Grenzbereich ist die spannungsreiche Passage, auf die sich das Interesse der Künstlerin richtet, an der sich der Zustand des Zwischen-Seins zwischen Materialität und Immaterialität dieser Arbeiten erfahren lässt. Je nach Ausrichtung der Aufmerksamkeit des Betrachters ist in einer Farbzone ganz Unterschiedliches zu sehen: der Anschluss, die Unterscheidung, der Nachklang, der Schimmer darunter, das Licht, der Kontrast, das räumliche Vor- und Zurück und das Sich-Durchdringen, die Einbindung in einen Rhythmus, in eine fließende Verwandlung - Bewegung, die Unterbrechung derselben, ein Endpunkt, die Unendlichkeit. Anschi Pohlmanns Farbverläufe sind Ergebnis von malerischen Erkundungen und Anknüpfungspunkte für Weltwahrnehmung zugleich. Die Farbe übermittelt in den Bildern von Anschi Pohlmann Mitteilungen, die mit der menschlichen Fähigkeit, die Welt zu erleben und zu empfinden, aufs engste verknüpft sind. Auf einer ästhetischen Ebene wird dem Betrachter in diesen Farbkompositionen eine Erfahrung vermittelt, die dem Bild selbst innewohnt, nämlich die Möglichkeit, Gefühl aus sich selbst zu schöpfen. Insofern ist Malerei Dialogpartner, um die eigene Innenwelt zu erforschen, zu reflektieren, innere Orte zu suchen, zu finden und zu beschreiben. Anschi Pohlmanns Malerei zieht keine festen Grenzen, sondern macht kenntlich, dass Bilder jenseits aller potentiellen Symbolik und Inhaltlichkeit, offenen Spannungsfelder sind.

Dies wird insbesondere auch an den Arbeiten deutlich, in denen die Künstlerin verschiedene Materialien miteinander kombiniert. So baut sie beispielsweise farbige Glassteine in ihre Kompositionen ein, die Linien beschreiben, Übergänge markieren. Diese Reihungen von Glassteinen - wie Perlen auf einer Schnur - unterbrechen und akzentuieren die Farbstreifen, stehen im Kontrast zur flächigen Ebene der Farbe. Dabei bricht sich im Glas das Licht, so dass eine neue Form von Farb-Materialität entsteht. Die Künstlerin formuliert in ihren Arbeiten Spannungsverhältnisse, die sich auf die Doppelnatur der Farbe gründen, die einerseits flächengebunden ist und sich andererseits raumgreifend realisiert und sich damit in einem unausgesetzten Übergang zwischen ortsgebundener Materialität und sich von jeglicher Verortung lösender Immaterialität befindet. Farbe tritt nicht nur gleichermaßen, sondern gleichzeitig als Materie und als Energie, als Körper und Licht in Erscheinung. In Anschi Pohlmanns Arbeiten ist sie unterwegs zwischen Fläche und Raum, zwischen Bindung und Lösung, zwischen Freisetzung und Integration.

In ihrem künstlerischen Entwicklungsprozess hat sich Anschi Pohlmann in den vergangenen Jahren parallel zur beschriebenen abstrakten Farbmalerei, eine gewissermaßen private Symbolwelt geschaffen, die vielleicht von dem Bedürfnis zeugt, Rätsel zu fixieren, um Unbegreifliches wenigstens vorübergehend zu bewältigen.
Entstanden ist dabei ein Zyklus von Bildern, Objekten und Installationen, die eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Bild der Frau in unserer Kultur zum Thema hat. Diese künstlerische Position von Anschi Pohlmann steht im Kontext des kunsthistorischen Begriffs der "Individuellen Mythologie". Sie selbst bezeichnet diese Werkgruppe mit diesem Begriff, der auf der documenta 5 (1972) geprägt wurde.
Der Kurator Harald Szeemann präsentierte erstmals Kunst, in der mythische Vorstellungen (Träume, Erinnerungen, mythische Überlieferungen) in eine symbolisierende Zeichensprache umgesetzt wurde. Die Begriffserfindung "Individuelle Mythologie" gehört zu den vieldeutigsten, zugleich aber erfolgreichsten terminologischen Innovationen im Kunstbetrieb der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Der Terminus steht für die subjektive Mitteilung künstlerischer EinzelgängerInnen über ihre existentiellen Selbsterfahrungen. Er umreißt keinen eindeutig definierten Medieneinsatz, keine in Manifesten verbalisierte Programmatik, kein auf gemeinsamem Selbstverständnis basierende Gruppierung: er fungiert vielmehr als Zusammenfassung eines breiten Spektrums heterogener medialer Ausdrucksformen, denen die Atmosphäre mentaler Intensität gemeinsam ist - ein nur undeutlich begrenzter geistiger Raum, in dem ein Einzelner jene Zeichen und Signale setzt, die ihm seine Welt bedeuten. Die unter dem Begriff der Individuellen Mythologie subsumierten KünstlerInnen stellten in den sechziger Jahren mit ihren Einblicken in emotionale Privatsphären und psychologische Spielräume eine betont antirationalistische Attitüde gegen die zeitgleichen gesellschaftskritischen Praktiken, aber auch gegen die theoretischen und analytischen Operationen konzeptueller Kunst. Wesentlich für den Begriff der Individuellen Mythologie ist sein Irritationspotential. Der Mythos, ein kollektives Sprachsystem wird mit der Erfahrungsebene des Individuums verknüpft. Der Begriff lebt vom Widerspruch zwischen dem Verbindlichkeitsanspruch eines anonymen Verständigungsmittels, das kollektive Erfahrungen zum Ausdruck bringen soll, und visuellen Realitätsentwürfen privatistischer Herkunft. In dem Maße also, wie die Individuellen Mythologien Zeichensysteme verwenden, die nicht mehr auf Vereinbarungen zwischen KünstlerInnen und Publikum beruhen, sind ihre Botschaften stets nur partiell dekodierbar. Infolge dieser Unvollständigkeit des Kommunikationsprozesses gehört zu ihren Merkmalen die Dimension des Verrätselten und Mysteriösen, dessen unauflösbarer Rest dem Betrachter das Gefühl von Einblicken in eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Situationen vermittelt.

Gerade dies ist charakteristisch für Anschi Pohlmanns Arbeiten. Dem Eindruck etwas zu sehen, was eigentlich nicht gesehen werden sollte, etwas zu beobachten, was doch im Verborgenen liegt, kann man sich kaum entziehen. Es ist fast ein bedrückendes Gefühl bleierner Schwere, das über diesen jungen Frauen zu liegen scheint, die Anschi Pohlmann frontal, in fast statuarisch ruhigen Posen fotografiert hat. Sie erscheinen in langen, fließenden Gewändern, fragil und selbstbewusst zugleich in ihrer Haltung. Man wird vielleicht erinnert an romantische Frauenbilder des 19.Jahrhunderts. Die Fotografien, auf Folie gebracht, dann auf Glas, Leinwand oder Stein transferiert, sind Ausgangsmaterial für die weitere malerische Bearbeitung. Aus vorwiegend in Brauntönen, Schwarz und Gold gehaltenen wolkigen Farbräumen tauchen die Frauen unterschiedlich schemenhaft, teilweise wie Schatten auf. Woher sie kommen, wohin sie gehen, liegt genauso im Ungewissen wie der Raum, aus dem sie blicken. Die übereinandergeschichteten Farbschleier, einerseits zauberhaft zart - diffus, unbekannt andererseits, wirken wie vielfach gefilterte Erinnerungen, wie feinste Stimmungsnuancen in die Jetztzeit transportiert.

Die Arbeiten tragen als Titel die Namen der Frauen oder sie sind nach Göttinnen der antiken Mythologie benannt: Artemis, die Göttin der Jagd, des Mondes und Hüterin der Frauen und Kinder, Morgana, eine Heilerin, die in der Mythologie um König Artus auftaucht und sich in unterschiedliche Figuren verwandeln kann, Hekate, die Göttin der Zauberkunst, die ursprünglich Göttin der Schwelle und Übergänge und die Wächterin der Tore zwischen den Welten war, Pandora, nach griechischer Mythologie die erste Frau auf der Erde, die auf Geheiß des Göttervaters Zeus von Hepheistos aus Lehm geformt wurde und die der antike Dichter Hesiod beschreibt als "schönes Übel", Oreithya, die Königstochter, die von Boreas, dem Nordwind gewaltsam nach Thrakien entführt wurde und sich mit ihr vermählte.

Anschi Pohlmann arbeitet mit den Mythen, die mit diesen Frauenfiguren verbunden sind. Es sind ungewöhnliche Frauen, die sich ihrer Position und Fähigkeiten, ihrer Bestimmung bewusst sind und konsequenterweise ihren Weg gegangen sind. Die Frau, für Sigmund Freud, der ewig unverständliche "dunkle Kontinent", wird für Anschi Pohlmann zur künstlerischen Projektionsfläche. Dabei rekurriert die Künstlerin auf die These C.G.Jungs von den sogenannten Archetypen. Nach seiner Auffassung sind mythologische Figuren Archetypen, d.h. universell vorhandene Urbilder in der Seele aller Menschen, unabhängig von ihrer Geschichte und Kultur. An ihnen zeigen sich psychische Strukturdominanten, die als unbewusste Wirkfaktoren das Bewusstsein beeinflussen.

In ihrem Werkzyklus begibt sich Anschi Pohlmann tief in die universelle Geschichte der Mythologie einerseits und reflektiert diese in einem persönlichen Kontext andererseits. Damit verknüpft sie das kollektive Wissen über den Mythos mit ihrer individuellen Erfahrungsebene, mit ihrer persönlichen Geschichte, die der Betrachter nicht kennt. Ihre Arbeiten erscheinen als erzählerisches Protokoll einer Spurensicherung, deren Innerlichkeit, wie in ihrer Farbmalerei, erahnbar ist.

An diesem Punkt, an dem sich wiederum zeigt, dass Anschi Pohlmanns Arbeiten vor allem auch offene Prozesse sind, kann sich der Zugang für den Betrachter öffnen, den eigenen Vorstellungen, Erfahrungen, Erlebnissen nachzugehen und eine Vielzahl von Formulierungen zu finden, ohne durch vorgefertigte Gedankengebäude festgelegt zu sein.

In den Installationen "In Memory of Them …" inszeniert die Künstlerin mit ihren Objekten und Bildern stille, poetische Orte der Erinnerung, die Assoziationen an Gedenkstätten oder Mahnmale hervorrufen. In Reihen angeordnet tauchen die Frauengestalten geisterhaft auf Steinblöcken auf, die im weitesten Sinn an Grabsteine erinnern können. Mythologische Göttinnen und Frauen der Jetztzeit konfrontiert die Künstlerin in dieser Installation miteinander, schafft so eine ästhetische erfahrbare Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Mythos, die Schicksale, Bestimmung, Bedeutung von Frauen über Grenzen von Zeit, Raum und Kulturen hinweg miteinander verbindet. Dabei entwickelt sich die Einbeziehung des Raumes zu einem konstituierenden Element ihrer Bildsprache.
Anschi Pohlmanns Werkzyklus entzieht sich einer allgemeingültigen Interpretation, ist vielmehr darauf angelegt, vom Betrachter, der sich darauf einlässt, sinnlich erfahren zu werden. Aus diesen Erfahrungen wird sich jeder vor seinem individuellen geistigen und psychischen Hintergrund mit diesen Arbeiten auseinandersetzen müssen.

Eine weitere Entwicklung des Werkzyklus Individuelle Mythologien, sind neue Arbeiten mit Titeln wie "Gib mir Feuer", "Ich gehe in Flammen auf", "Wache auf Prinzessin". Hier arbeitet die Künstlerin nun nicht nur mit einem lodernden Farbspektrum, in das die Mädchengestalten eingetaucht sind, sondern insbesondere mit Worten, die integrale Bestandteile der Komposition sind. Es sind träumerische, romantische Assoziationen die man beispielsweise mit der Frage "Wann kommt der Prinz?" verbindet. Anschi Pohlmann agiert in diesen Arbeiten als Regisseurin einer ambivalenten Traumwelt. Je länger man sie betrachtet, desto mehr Licht ist in ihr zu entdecken, umso intensiver wirken ihre Farben. Farbe erlebt man als von Licht erfüllt. Welcher Sphäre jedoch gehören die eingefügten Worte an? Was liegt diesseits, was jenseits von Farben und Licht? Dunkelheit? Ist die Idylle nicht doch trügerisch? In welcher Relation stehen Wunsch und Wirklichkeit? Im offensichtlich hellen Stimmungshaften, Atmosphärischen verbirgt sich Ungesehenes, Unbekanntes, Geheimnisvolles. Anschi Pohlmann thematisiert auch in ihren neuen Arbeiten den Übergang, die Passage und entwickelt so subtil den Spannungsbogen, der für ihre Bildsprache konstituierend ist.

Annette Quast, Kunsthistorikerin M.A., Hattingen